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Verhandlungen des Reichstages. - Berlin, 1893
Bd.: 129. 1892/93
Signatur: 4 J.publ.g. 1142 y,A-129

ID: 00018682
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... Das ist auch das Mittel, welches uns die Möglichkeit eröffnet, daß es einmal gelingen werde, jenen greulichen Verlusten vorzubeugen, wie sie diese letzte Epidemie wieder einmal über Europa gebracht hat. Wenn man bedenkt, daß ein einziges Reich, wie das russische, im Lauf kurzer Zeit über eine halbe Million Menschen der Krankheit hat verfallen sehen, so muß man sagen: es gehören energische Mittel dazu, mit denen man die Krankheitserreger zu zerstören im Stande ist. Das bloße Wechseln und Verlassen von Wohnungen z. B., das vorhin betont worden ist, und das in einem der Paragraphen dieses Entwurfs vorgeschrieben ist, wird vielleicht hier und da nützlich sein; es ist aber recht schwierig auszuführen. Kein Zweifel, daß eine vernünftige Desinfektion der Wohnungen mehr nützt, als die bloße Dislokation der Personen, welche sich in der Wohnung befinden. Die Desinfektion hätte wohl auch vorgeschrieben werden können, während hier bloß von Räumung die Rede ist. Die Kommission, die gewählt wird, wird sich wohl auch mit dieser Angelegenheit beschäftigen können. Ich kann aber meine Betrachtungen nicht schließen, ohne noch eine Frage kurz zu berühren, die auch der Herr Minister von Boetticher vorhin berührt hat, nämlich die Stellung der Medizinalbeamten. Das Gesetz geht nicht weiter, als daß es dem Reichskanzler die Möglichkeit eröffnet, besondere Delegirte an die betreffenden Stellen zu entsenden und da Anordnungen zu treffen. Aber diese Anordnungen werden sich immer nur darauf beschränken können, daß irgend einer Behörde oder irgend einem einzelnen Beamten etwas aufgetragen wird. ...
... Wenn aber wirklich eine große Epidemie über uns käme — denken (L) Sie, die Cholera hätte sich z. B. über die Hälfte von Deutschland verbreitet —, so wäre es ganz unmöglich, so viele Kommistarien zu entsenden, um überhaupt nur an allen diesen Stellen wirksam eingreifen zu können. Da haben wir keinen anderen Schutz, keine andere Zuversicht für die Zukunft, als daß man dafür sorgt, daß an alle diese Stellen Beamte gestellt werden, welche nicht bloß äußerlich so weit gesichert sind in ihrer amtlichen Stellung, daß sie energisch eingreifen können, indem ihnen eine gewisse Exekutivgewalt beigelegt wird, sondern die auch in ihrer bürgerlichen Stellung so gesichert sind, daß sie es wagen können, gegen die Interessen dieser oder jener Familie aufzutreten. Daraus ergiebt sich die Forderung, daß die deutschen Staaten sich endlich entschließen müssen, für ihre Medizinalbeamten besser zu sorgen und eine bessere Organisation, nicht sowohl der obersten Instanzen — darauf kommt es viel weniger an —, sondem gerade der eigentlichen Exekutivbeamten zu schaffen. Das wird uns viel mehr nützen als die bloße Organisation in der Höhe. Vorläufig werden wir das ja nicht in das Gesetz schreiben können; aber es sollte diese Gelegenheit benutzt werden, um von allen Seiten der Ueberzeugung Ausdruck zu geben, daß, so anerkennenswerth auch die Gedanken sind, die in diesem Gesetz niedergelegt sind, es doch nur der Anfang von dem ist, was erstrebt werden muß. (Bravo!) Präsident: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Freiherr von Unruhe-Bomst. ...

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... Je schneller die Anzeige über eine ausgebrochene Epidemie erfolgt, desto erfolgreicher kann das Einschreiten der Sanitätsbehörde in Wirksamkeit treten. Ich glaube aber, daß eine sachgemäße Anzeige nur von dem behandelnden Arzt zu erwarten und zu verlangen ist. Die anderen in H 2 zur Anzeige verpflichteten Personen werden wegen ihrer Unkenntniß der Krankheiten und Krankheitssymptome häufig verwirrte und falsche Anzeigen erstatten, auf welche kein Gewicht zu legen ist. Deshalb glaube (6) ich, daß auch die Strafbestimmungen auf die Personen der letzteren Kategorie in einer milderen Form anzuwenden wären. Die in den nächstfolgenden W 10 bis 26 des Gesetzentwurfs enthaltenen Bestimmungen über die Schutzmaßregeln können jedoch auf einen unbedingten Beifall nicht rechnen. Das dort projektirte Absperrungssystem greift so gewaltig in die verschiedenen Interessen des Verkehrs, des Handels und des Gewerbes, daß nur die volle Sicherheit, daß durch dieses Absperrungssystem die Ausdehnung von gemeingefährlichen Krankheiten im Keim erstickt werden könne, ein Aequivalent für die große Schädigung bieten könnte, welche auf dem Gebiet des wirthschaftlichen Lebens durch das Absperrungssystem hervorgerufen wird. Diese Sicherheit ist aber nicht vorhanden; im Gegentheil verschafft sich die Ansicht von der Erfolglosigkeit des Absperrungssystems immer mehr Geltung, und auch die Erfolge der Desinfektion werden immer mehr illusorisch, weil mangels von entsprechenden Desinfektionsapparaten und wegen der allzugroßen Menge von Erkrankungsfällen während einer Epidemie die Desinfektion nicht gründlich genug ausgeführt werden kann. ...
... Es ist klar, daß während einer Epidemie die thatkräftige Mitwirkung aller Aerzte ein wesentliches Erforderniß ist. Die untergeordnete Stellung aber, welche der Gesetzentwurf den praktischenAerzten zuweist, das deprimirende Abhängigkeitsverhältniß zu den beamteten Aerzten wird es zweifellos zur Folge haben, daß ein harmonisches ärztliches Zusammenwirken bei dem Kampf gegen die Epidemie ausgeschlossen wird. Es wird Sache der Kommission sein, diese wie auch diejenigen Mängel, die von den Herren Vorrednern hervorgehoben worden sind, zu beseitigen. Ich beschränke mich auf diese Bemerkungen und bin auch der Ansicht, die Vorlage einer Kommission von 21 Mitgliedern zu überweisen. (Bravo! im Zentrum.) Präsident: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wurm. Abgeordneter Wurm: Meine Herren, meine Parteigenossen und ich stehen dem Gesetzentwurf insoweit sympathisch gegenüber, als wir es.für durchaus nothwendig halten, daß von Reichswegen endlich gegen die auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheitspflege bestehende Mißwirthschaft, die in einzelnen Gemeinden und in einzelnen Staaten besteht, eingeschritten wird. Wir bedauern aber, daß der Gesetzentwurf keineswegs dem entspricht, was von ihm erwartet wurde. Die Begründung des Gesetzentwurfs fängt zwar mit den Worten an, daß „ein kräftiges Eingreifen der öffentlichen Gewalten gegenüber den die Bevölkerung bedrohenden Seuchengefahren nothwendig sei aus wirthschaftlichen und aus wissenschaftlichem Gründen. ...

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... , wird ja selbstverständlich zu Zeiten einer Epidemie seine Privatpraxis nicht mehr ausüben können; er wird aber auch, wenn er nicht materiell ganz anders gestellt wird, gar nicht in der Lage sein, sich hingebend der aufopfernden Thätigkeit zu widmen, die er als Epidemiearzt auszuüben hat, wenn nicht von irgend einer Seite ihm die materielle Vergütigung geboten wird, sodaß er entschädigt wird und auch seine Angehörigen. Wenn aber in anderen Staaten — ich erinnere an Oesterreich — schon bei Ausbruch der Epidemie im vorigen Jahr ins Auge gefaßt wurde: was wird aus dem Arzt, aus den Angehörigen desselben, — so ist bei uns weder im Gesetzentwurf die Rede davon, noch sonstwo. Es handelt sich dabei nicht allein um die Aerzte, sondern auch um alle Hilfsarbeiter, die auch zu dem sanitären Dienst hinzugezogen werden müssen im Interesse der Gesammtheit. Es handelt sich dabei speziell auch um diejenigen Arbeiter, deren Beruf es ist, Klosetarbeiten zu verrichten, und die gerade zu Zeiten der Choleragefahr in ganz eminenter Weise herangezogen werden zu Reinigungsarbeiten, Reparaturarbeiten, zu denen sie ver- ...

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... Besonders in Gegenden, wo die Leute so zusammengedrängt wohnen, wie in den großen Städten, wo in Zeiten der Epidemie ganze Schlachtfelder sich bilden, sind die Krematorien eine dringende Nothwendigkeit. Und doch tritt man ihnen mit allen möglichen Scheingründen entgegen, die von keiner autoritativen wissenschaftlichen Seite irgendwie noch anerkannt werden. Es wurde vorhin von dem Abgeordneten Endemann (L) darauf hingewiesen, die Behörden hätten 1892 ihre Schuldigkeit gethan, um der Epidemie entgegenzutreten. Wir können in dieses Loblied nicht einstimmen; wir müssen erklären, daß das nicht nur 1892 nicht so war, sondern daß auch leider seither nichts geschehen ist. Wir würden sehr froh sein, wenn wir wirklich einmal den Regierungen ein Lob nach dieser Richtung spenden könnten; es würde sicherlich der Arbeiterbevölkerung besser gehen, wenn wir mit dem, was geschieht, zufrieden wären. Leider sind wir es nicht. Und wer ist es denn, der dabei zu leiden hat? Man sagt, eine Epidemie sei eine Geißel. Ja, eine Geißel; aber mit ihr werden nicht diejenigen gezüchtigt, die gesündigt haben, sondern die, gegen die gesündigt worden ist. Gesündigt wird gegen das arbeitende Volk durch unsere Wirthschaftsordnung, durch die gesammten Verhältnisse; man raubt dem Arbeiter Luft, Licht und Nahrung; man zwängt ihn in die erbärmlichsten Verhältnisse hinein. Dann kommt die Epidemie und die Pest und tödtet den Arbeiter in erster Linie. Es sind die Armenquartiere, in die der Todesengel hineinkommt; es sind die Armenquartiere, aus denen jene großen Leichentransporte herauskommen. Und wodurch sind diese furchtbaren Mißstände entstanden? Warum wird dort Opfer an Opfer gereiht? ...

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... Bedenken Sie die furchtbare Hitze, welche im August und September vorigen Jahres vor und während der Epidemie herrschte und der Entwicklung und dem Fortschreiten der Krankheit außerordentlichen Vorschub leistete, sowie ferner den in Folge der Witterungsverhältniffe ganz ungewöhnlich niedrigen Wasserstand der Elbe und des Grundwassers! Der niedrige Wafferstand der Elbe verursachte eine ausnahmsweise große Ansammlung von oberländer Kähnen bei der Schöpfstelle der Stadtwafferkunst, durch welche möglicherweise Krankheitskeime dem Leitungswasser zugeführt worden sind. ...

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... Und da hat der Herr Minister von Boetticher sehr richtig hervorgehoben, solche Fälle träten doch nur ein, wenn die Epidemie eine größere Verbreitung gefunden hat. Denn, meine Herren, es sind bei allen Epidemien gewisse Hauptsymptome sehr leicht für alle Laien kenntlich, sie werden so in den Zeitungen und Bekanntmachungen der Behörde hinreichend bezeichnet. Durch solche Symptome werden die Haushaltungsvorstände bereits in der Lage sein, bei irgend einem Verdacht diese Anzeige richtig machen zu können; und ich halte die Haushaltungsvorstände dazu in erster Linie für verpflichtet. Wenn Herr von Unruhe meint, daß überhaupt kein Werth darauf zu legen sei, so gebe ...

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... Auch damals haben wir es für nützlich erachtet, als uns die Epidemie plötzlich über den Hals kam, ein Kollegium von Sachverständigen, die wir als hervorragende Fachgelehrte ansehen durften, dem Gesundheitsamt beizugesellen, um dadurch die Möglichkeit zu schaffen, daß in jedem Augenblick eine technische oder wissenschaftliche Frage, die bezüglich der Bekämpfung der Seuche von einer Behörde zu erledigen wäre, auch ihre möglichst erschöpfende sachverständige Beurtheilung finden konnte. Also, meine Herren, ich bin nicht abgeneigt, alle diejenigen Einwendungen gegen den Entwurf, welche sich als berechtigt herausstellen, demnächst bei der Spezialberathung zu beseitigen beziehungsweise zu ihrer Beseitigung mitzuwirken. Weshalb ich mir jetzt noch einmal das Wort zu nehmen gestatte, ist hauptsächlich die auch von dem Herrn Vorredner gestreifte und gestern in den Reden verschiedener Herren Abgeordneten mehr oder weniger lebhaft betonte Stellung, welche angeblich durch den Entwurf den Aerzten zugewiesen wird. Meine Herren, ich stelle kühnlich und weislich die Behauptung auf, daß durch diesen Entwurf in Bezug auf die äußere Stellung der Aerzte und in Bezug auf ihre Wirksamkeit nicht das Mindeste geändert wird gegen den bisherigen Zustand, und ich habe in all den Preßerzeugnissen und in all den Berathungen, die über diesen Punkt gepflogen worden sind, auch kein einziges handliches Moment zu entdecken vermocht, welches (v) dafür ins Gefecht geführt werden könnte, daß die Stellung der Aerzte, wie gestern von einem der Herren Abgeordneten hier ausgesprochen worden ist, durch den Entwurf zu einer unwürdigen herabgedrückt werde. ...

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... Die Epidemie des vorigen Sommers hat nun die Regierung bewogen, nicht länger mit einer Vorlage zu warten, deren Nothwendigkeit keinem Zweifel mehr unterliegt. Wenn aber, wie gestern hier im Hause von mehreren der Herren Redner, gesagt worden ist, man sollte sich in diesem Gesetzentwurf auf die Bekämpfung der Cholera beschränken, so glaube ich, daß das nicht der richtige Weg zur (L) Erlangung des Ziels wäre; dann könnte man dem Gesetze den Vorwurf machen, dem man in der Presse öfter begegnet ist, wo gesagt wurde, daß das Gesetz eigentlich nur ein Gelegenheitsgesetz ist. Es sterben ja jedes Jahr viel mehr Leute an anderen gemeingefährlichen Krankheiten, und ich kann meinerseits nur bedauern, daß der Entwurf sich eigentlich auf drei Krankheiten beschränkt hat, die in unseren Ländern vorkommen. Ebenso scheint es mir verfehlt, wenn man sagt, daß diese Kompetenz soviel als möglich den Einzelstaaten überlassen bleiben muß. Die Verkehrsmittel unserer Zeit haben die Erde scheinbar kleiner gemacht, die Völker sind sich viel näher gerückt, aber dadurch sind auch alle Gegenstände, welche Träger von Ansteckungsstoffen sein können, viel schneller von einem Ort zum anderen gebracht; deshalb sind auch Maßregeln, welche die. Schutzvorkehrungen gegen Epidemien auf die einzelnen Bundesstaaten beschränken, meistens ungenügend, und das genau in dem Maße, als der Verkehr desselben ein lebhafter ist und die Grenzen desselben eng gezogen sind. Außer der Ordnung im engeren Lande zeigt sich auch immer mehr das Bedürfniß einer für das ganze Reich einheitlichen Epidemienpolizei. ...

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... Auch da — und das sehe ich ganz gut ein — ist in die Einzelrechte ziemlich einschneidend eingegriffen worden; aber jede größere Epidemie verursacht schwere Verluste an leistungsfähigen Menschen und an Erwerb. Deshalb sind alle Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege und der Epidemiepolizei nicht nur in humanitärer, sondern auch in nationalökonomischer und politischer Beziehung schwerwiegend. Um die von der öffentlichen Gesundheitspflege gebotenen Maßnahmen, welche in wichtige geschäftliche und persönliche Interessen, ja sogar in die Eigenthumsrechte des Einzelnen, verletzend eingreifen, durchführbar zu machen, muß das Verständniß für die nothwendige Beschränkung der Einzelrechte gegenüber dem Gesammtwohl und insbesondere gegenüber dem allgemeinen Gesundheitsinteresse in das allgemeine Bewußtsein dringen. Meine Herren, ich schließe mich dem Antrag an, der gestern schon gestellt worden ist, den Entwurf einer Kommission von 21 Mitgliedern zu übertragen; und ich wünsche nicht allein eine schleunige, sondern auch eine gründliche Berathung, damit das Gesetz nicht den Stempel eines Gelegenheitsgesetzes trage, sondern daß es auch wirklich ein Gesetz zur Bekämpfung aller gemeingefährlichen Krankheiten werde. (Bravo! rechts.) Vizepräsident Graf von Vallestrem: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Molkenbuhr. Abgeordneter Molkenbuhr: Meine Herren, wir stehen, wie mein Fraktionsgenosse Wurm schon gestern ausführte, auf dem Standpunkt, daß wir glauben, das Reich hat die Pflicht, für die Gesundheit der Einwohner des Reichs zu sorgen. Es ist dies ja auch zum Theil in dem Art. 4 der Reichsverfassung zum Ausdruck gekommen. Wir finden nun, daß die Reichsgesetzgebung sich mit Fragen beschäftigt, die zum Theil auf diesem Gebiete liegen. ...

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... Als die Epidemie eine Zeit lang im Gange war, erschien plötzlich eine polizeiliche Bekanntmachung in Altona, daß die Leute, welche regelmäßig in Hamburg zu thun hätten, eine Karte vom Polizeiamt zu lösen hätten, und daß alle Leute von Hamburg, die regelmäßig in Altona zu thun hätten, gleichfalls eine Karte lösen sollten. Während nun das Reichsgesundheitsamt angeordnet hatte, daß möglichst alle Menschenansammlungen zu verbieten seien, sah man das Polizeiamt in Altona zwei, drei Tage lang von Tausenden von Menschen belagert, die sich dort zusammendrängten: jeder wollte seine blaue oder rothe Karte in Empfang nehmen. Es wurde ferner verfügt, daß durch gewisse Straßen keine Wagen fahren dürsten und durch andere Straßen die Lastwagen nur von 7 Uhr Morgens bis 9 Uhr Abends fahren dürften. Passirte es nun einem Lastfuhrmann, daß er bis 9 Uhr Abends die Grenze nicht erreichen konnte, so war er gezwungen, in Hamburg zu übernachten. In anderen Straßen hatte man Pfähle eingerammt, daß kein Wagen durchfahren konnte — oder ob die Bazillen damit aufgehalten werden sollten? — ich «b-mch«. Daß also zum Abholen der rothen und blauen Karten und durch die Maßnahmen an der Grenze in den ersten Tagen große Menschenansammlungen stattfanden, und daß in einer so großen Stadt die Leute zusammenliefen und Abends da standen und die Weisheit der Behörden bewunderten, ist begreiflich. Das alles sind Dinge, die bei einer solchen Epi- C) demie vor sich gehen können. ...

191 /558
... Nur dann kann man vielleicht mancherlei Seuchen vorbeugen; so lange man sich aber in dem engen Rahmen bewegt, wie es das gegenwärtige Gesetz thut, so wird man vielleicht erleben, daß in einem der nächsten Jahre eine Epidemie in einer anderen Stadt ausbricht, und alles wird wieder fragen: wie ist es möglich, daß die Behörde das dulden konnte? Nun, es ist möglich, weil gerade diejenigen, die ein Interesse daran haben, die Häuser so viel wie möglich auszubeuten, — weil die es waren, welche eine Bauordnung schaffen sollten, — weil die Hausbesitzer alles das regeln sollten, was zur Vorbeugung von Krankheiten gethan werden sollte. (Bravo! bei den Sozialdemokraten.) Vizepräsident Graf von Vallestrem: Das Wort hat der Herr Bevollmächtigte zum Bundesrath, Senator der Freien und Hansestadt Hamburg Dr. Burchard. B) Stellvertretender Bevollmächtigter zum Bundesrath, Senator der Freien und Hansestadt Hamburg Dr. Burchard: Ich muß dem Bedauern Ausdruck geben, daß der Abgeordnete Molkenbuhr meinen gestrigen Ausführungen, denen zufolge in Hamburg der Erlaß eines Wohnungsgesetzes und der Erlaß eines neuen Baupolizeigesetzes geplant werde, welche voraussichtlich demnächst zur Verabschiedung gelangen würden, einen gewissen Kleinglauben entgegengesetzt hat. Der Herr Abgeordnete hat die Meinung ausgesprochen, daß die wohlwollenden Absichten des Senats nicht zur Verwirklichung gelangen würden, weil die Bürgerschaft dieses Gesetz mit zu genehmigen habe und die Hamburger Bürgerschaft zu einem erheblichen Theile aus Interessenten zusammengesetzt sei, d. h. solchen Personen, welche daran interessirt seien, daß ein Wohnungsgesetz und ein neues verbessertes Baupolizeigesetz nicht zu Stande käme. ...
... Ich schließe mit der Versicherung, meine verehrten Herren, daß Senat und Bürgerschaft vollständig eins sind in dem Bestreben, denjenigen Mängeln auf sanitärem Gebiete, welche sich anläßlich der letzten Epidemie herausgestellt haben, energisch abzuhelfen. Vizepräsident Graf von Vallestrem: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schräder. Abgeordneter Schräder: In die spezifisch Hamburgischen Streitigkeiten mich einzumischen, meine Herren, habe ich keine Veranlassung. Ich kann nur einen Wunsch aussprechen, daß es dem Hamburger Senat gelingen möge, diejenigen Einrichtungen zu schaffen, die er sich vorgesetzt hat. Ich glaube, daß es ihm gelingen wird, weil unter dem Druck der Noth, die im vorigen Jahr über Hamburg gekommen ist, auch manche Interessen, die sonst sich gegen eine solche Reform geltend gemacht haben würden, zum Schweigen gebracht sind. Aber ich glaube, mit den beiden Reformen, wie sie der Senat sich vorgenommen hat, ist nur ein Theil der Arbeit gethan. Es genügt nicht, zu verhindern, daß schlechte Häuser gebaut werden, und die Häuser schlecht bewohnt werden, sondern es muß vor allen Dingen darauf gesehen werden, daß die guten Wohnungen vermehrt werden, damit die schlechten Wohnungen geräumt werden, und dafür die Leute bessere Wohnungen bekommen können als bisher. Ich habe den lebhaften Wunsch, daß es der Stadt Hamburg — ich meine nicht die offizielle Stadt Hamburg, sondern die Hamburger Bürgerschaft — gelingen und daß sie es sich angelegen lassen sein möge, möglichst bald eine wirklich große Zahl von guten Wohnungen für kleinere Leute zu schaffen. ...

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... Der einzelne Arzt hat, wie schon ausgeführt ist, in Zeiten der Epidemie mit seiner eigentlichen Thätigkeit so viel zu thun, daß ihm nicht eine amtliche Thätigkeit zugemuthet werden kann. Die Hauptsache aber ist, daß eine größere Anzahl von Aerzten in einem bestimmten Bezirk die Pflichten nicht in gleicher Weise erfüllen kann wie ein beamteter Arzt. Es muß eine verantwortliche Person in jedem Bezirk sein, die für alle Dinge, die innerhalb ihres Wirkungskreises passiren, verantwortlich ist; und man kann sich nicht darauf verlassen, daß eine größere Anzahl von Aerzten, die nicht die amtliche Pflicht haben, die ihnen durch dieses Gesetz auferlegten Pflichten vollkommen gleichmäßig erfüllen. An dem guten Willen zweifle ich nicht. Aber die Schwierigkeiten, die ihnen entgegentreten, werden groß genug sein; und ich meine, wenn man die Sicherheit haben will, daß gewisse Bestimmungen erfüllt werden, muß man eine verantwortliche Person haben, an die man sich halten kann. Nun können sich unsere Aerzte über die sozialpolitische Gesetzgebung — der Herr Staatssekretär kam darauf, und deshalb will ich darüber ein Wort sagen — insofern sich nicht beschweren, als ihnen dieselbe nicht eine geringere, sondern eine größere Thätigkeit zugewiesen hat. Ich bin auch nicht der Meinung, daß die Aerzte über mangelnden Verdienst in dem Maße zu klagen haben, wie von manchen Seiten behauptet ist. Speziell in großen Städten liegt die Sache nicht so schlimm, wie sie dargestellt ist. ...

193 /558
... Er hat davon gesprochen, daß im vorigen Jahr gewisse Kompetenzschwierigkeiten dem wirksamen Eingreifen des Reichs in Bezug auf die Bekämpfung der Epidemie in Hamburg entgegengestanden hätten. Ich bin zwar nicht unmittelbar bei dem Ausbruch der Epidemie auf meinem Posten gewesen, bin aber bald nach dem Ausbruch zurückgekehrt und kann versichern, daß wir in keinem Fall im Zweifel darüber gewesen sind, wie weit wir in Bezug auf die Bekämpfung der Seuche in Hamburg gehen sollten. Ich habe es hier dankbar und rühmend anzuerkennen, daß uns von Seiten des Hamburger Senats auch nicht die leisesten Schwierigkeiten gemacht worden sind bei der Durchführung derjenigen Anordnungen, die wir, gestützt auf das Urtheil der Sachver- (U) ständigen, für Hamburg als nothwendig erkannt haben. Freilich sind wir dabei auch mit der nöthigen Delikatesse verfahren, wie wir das ja immer thun (Heiterkeit), und wir haben so also auch keinen Anlaß dazu gegeben, daß man uns einen Widerstand entgegenzusetzen nöthig gehabt hätte, der die Erfüllung unserer Pflichten erschwert hätte. Ich zweifle nach dieser Erfahrung gar nicht daran, daß wir auch künftig, wenn auch die Gefühle des einzelstaatlichen Bewußtseins im Deutschen Reich in anderen Gegenden noch stärker ausgebildet sein mögen als in Hamburg, im bundesfreundlichen Benehmen mit den Regierungen alles zu thun im Stande sein werden, was wir an der Hand der sachverständigen Gutachten thun müssen, um Seuchengefahren vom Vaterlande fernzuhalten. Präsident: Es hat sich niemand weiter zum Wort gemeldet; ich schließe die Diskussion. ...






Verhandlungen des Reichstages. - Berlin, 1893
Bd.: 130. 1892/93
Signatur: 4 J.publ.g. 1142 y,A-130

ID: 00018683
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... Entwickelung1 der Epidemie.1 Seite Einleitung 312 Choleraausbruch1 in1 Deutschland 312 2.1 Theil. Maßnahmen gegen die Cholera. Maßnahmen zur Verhütung der Einschleppung der Cholera aus dem Auslande319 Maßnahmen zur Verhütung der Weiterverbreitung und zur Unterdrückung der Cholera im Zulande321 Maßnahmen der Heeres- und Marineverwaltung . . . . . 324 Gegenwärtiger Stand der Cholera und Aussichten für die Zukunft .1 .1 325 3.1 Theil. Einfluß der Choleraepidemie auf die Verkehrsbeziehungen zum Auslande. Einleitung326 Belgien (S. 329). Bulgarien (S. 329). Dänemark (S. 330). Frankreich (S. 331). Griechenland (S. 331). Großbritannien (S. 332). Italien (S. 332). Luxemburg (S. 332). Marokko (S. 333). Niederlande (S. 333). Oesterreich-Ungarn (S. 334). Portugal (S. 336). Rumänien (S. 337). Rußland (S. 337). Schweden-Norwegen (S. 338). Schweiz (S. 338). Serbien (S. 338). Spanien (S. 339). Türkei und Egypten (S. 340). Tunis (S. 341). Amerika (S. 341). Berlin, den 5. Dezember 1892. Eurer Excellenz beehre ich mich hierneben eine Denkschrift über die Choleraepidemie 1892 mit dem ergebensten Ersuchen zu übersenden, dieselbe gefälligst zur Kenntniß des Reichstags bringen zu wollen. Der Stellvertreter des Reichskanzlers. Dr. vor» Boetticher. An den Präsidenten des Reichstags, Wirklichen Geheimen Rath Herrn von Levetzow Excellenz. R. A. d. I. Nr. 95011. 4. Anlage«. 1.1 Uebersicht über die täglichen Erkrankungen und Todesfälle an Cholera. (Diagramm.) 2.1 Uebersicht über die Zahl der Orte, aus denen an den einzelnen Tagen Choleraerkrankungen und Todesfälle gemeldet worden sind. (Diagramm.) 3.1 Darstellung der Verbreitung der Cholera 1892. (Karte.) ...

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... Entwickelung der Epidemie. Einleitung. Cholera in Persien. Seit mehreren Jahren hat sich die Cholera außerhalb des ständig von ihr beherrschten Gebiets in Ostindien auch in Persien und dessen Nachbarländern eingenistet. Die Seuche tritt dort bald in geringerem, bald in größerem Umfange auf, und steigert sich namentlich in der wärmeren Jahreszeit zu örtlichen oder ausgedehnteren Epidemien. Ein weiteres Vordringen der Cholera nach Norden über das Kaspische Meer oder den Kaukasus war bis zum gegenwärtigen Jahre nicht bekannt geworden. Im April und Mai 1892 trat die Krankheit wieder in großer Heftigkeit in Afghanistan und Persien auf. Zufolge der vorliegenden Nachrichten bildeten sich nach und nach in den Städten Kabul, Herat, Meshed, Teheran, Tebriz und Jspahan Seuchenherde. In Kabul starben beispielsweise in der Zeit vom 19. bis zum 29. April 5 575 Personen an der Cholera. Die Krankheit sollte sich diesmal nicht auf ihren nächsten Bereich beschränken; sie fand vielmehr bereits nach kurzer Zeit im europäischen Rußland Eingang, wohin sie vielleicht durch den Verkehr über das Kaspische Meer aus den persischen Handelsplätzen Asterabad und Rescht verschleppt worden ist. Rußland. Anfang Juni wurde gemeldet, daß in dem russischen Hafenort Baku, welcher den aus Persien kommenden Verkehr über das Kaspische Meer aufnimmt, ein heftiger Ausbruch der Seuche erfolgt sei. Die Krankheit verursachte dort in der Zeit vom 6. bis 12. Juni 70, vom 13. bis 16. und 18. bis 20. Juni 418 Todesfälle und versetzte die Bevölkerung in derartigen Schrecken, daß eine allgemeine Flucht aus Baku die Folge war. ...
... Schon Anfang April war eine heftige Epidemie im Zuchthause des westlich von Paris gelegenen Vororts Nanterre mit 49 Todesfällen unter 51 Erkrankungen ausgebrochen, und der bakteriologische Nachweis der asiatischen Cholera erbracht worden. Melleicht ist die Krankheit, wie im Jahre 1884 nach Toulon, durch den regen Schiffsverkehr mit Tonkin aus Indien nach Frankreich getragen worden. Die in Frankreich anfangs bestandenen Zweifel über den wirklichen Karakter der Krankheit stützten sich wesentlich darauf, daß dieselbe sich während des April, Mai und Juni anscheinend auf die Ortschaften der nordwestlichen Bannmeile von Paris, besonders auf Nanterre, St. Denis, Neuilly, Puteau und Suresnes beschränkte und auch nach ihrem Eindringen in Paris einen im Verhältniß zur Einwohnerzahl dieser Stadt nur mäßigen Umfang annahm. In Paris scheinen die ersten Erkrankungen Anfang Juli vorgekommen zu sein; eine weitere Ausdehnung der Cholera soll indessen dort erst Ende August stattgehabt haben. Für die Zeit vom 1. bis 3. September gaben die amtlichen Berichte 82, für die Zeit vom 18. September bis 2. Oktober 182 Todesfälle an. Die Epidemie in Frankreich wurde für das Ausland besonders bedrohlich, als die an der Seine-Mündung gelegene Hafenstadt le Havre sich zu einem gefährlichen Choleraherd entwickelte. Nach einem Bericht, welcher Ende September der ^eaclemis äs wsässws in Paris erstattet wurde, ist die Seuche schon am 5. Juli aus Courbevoie, einem nordwestlich Paris gelegenen Vorort, nach Havre eingeschleppt worden, aber längere Zeit nicht zur Kenntniß der Behörden gelangt, da in Frankreich eine gesetzliche Anzeigepflicht für die Aerzte nicht besteht. ...

196 /558
... Entstehung und Verlauf der Epidemie. Hinsichtlich der Entstehung der Epidemie ist festgestellt worden, daß schon seit Mitte August in Hamburg choleraähnliche Erkrankungen in größerer Zahl vorgekommen waren. Man war in ärztlichen Kreisen geneigt gewesen, diese Fälle in das Gebiet des Brechdurchfalls oder der einheimischen Cholera zu verweisen, deren Vorkommen zu der betreffenden Jahreszeit nichts Außergewöhnliches war und bei der großen Hitze jener Tage auch leicht erklärlich schien, hatte sich aber andererseits der Thatsache nicht verschließen können, daß die Fälle recht zahlreich waren und sich durch große Sterblichkeit auszeichneten. Nach später angestellten Ermittelungen waren bis zum 20. August bereits 85 Erkrankungen dieser Art mit 36 Todesfällen vorgekommen. Indessen hatten die mehrfach ausgeführten Leichenöffnungen und bakteriologischen Untersuchungen den an maßgebender Stelle befindlichen Sachverständigen Hamburgs zunächst nicht die sichere Ueberzeugung gebracht, daß es sich wirklich um asiatische Cholera handelte. Erst am 22. August wurde die Diagnose dieser Krankheit auf Grund des Ergebnisses der bakteriologischen Untersuchung in den Hamburger Krankenhäusern seitens der dortigen Aerzte gestellt und dem Medizinalbüreau gemeldet. Die Seuche nahm in Hamburg rasch einen außerordentlich großen Umfang an. Die Zahlen der Neuerkrankungen und Todesfälle hatten am 21. August 83 und 22 betragen; schon an den beiden folgenden Tagen steigerten sie sich auf 200 und 70, sowie 272 und 111, um von da an stetig zuzunehmen, bis am 30. August mit 1081 Erkrankungen und 484 Todesfällen die höchsten Ziffern erreicht wurden. ...
... Dann begann die Epidemie allmälig abzunehmen; leichte vorübergehende Steigerungen gegen die vorhergehenden Tage brachten noch der 9. und 10., sowie später der 16. September. Vom 7. Oktober ab wurde die Zahl von 20 Neuerkrankungen an einem Tage nicht mehr erreicht. Am 24. Oktober wurden zum ersten Male Erkrankungen nicht gemeldet, und seitdem sind nur noch ganz vereinzelte Fälle vorgekommen. Neben der Zunahme in der Zahl der Cholerafälle ging in Hamburg eine räumliche Ausbreitung der Epidemie einher. Wenige Tage nach Beginn der Seuche waren nicht nur die am Hafen gelegenen Stadttheile, sondern auch die übrigen Stadtgegenden ergriffen. Diese auffallend rasche und seitdem oft als explosionsartig bezeichnete Verbreitung der Cholera wird von den Sachverständigen in erster Linie den Verhältnissen der Wasserversorgung in Hamburg zugeschrieben. Hamburg entnimmt sein Wasser oberhalb der Stadt bei Rothenburgsort aus der Elbe und pumpt es aus Ablagerungsbassins in die Röhrenleitnng. Die Reinigung durch Ablagerung ist bei dem großen Wasserverbrauch Hamburgs so wenig wirksam, daß sich das Leitungswasser schon dem äußeren Aussehen nach nicht von dem gewöhnlichen Elbwasser unterscheidet und stets gröbere Verunreinigungen enthält. Die Anlage von Sandfiltern zur Reinigung des Leitungswassers ist seit Jahren in Aussicht genommen. Dieselben befinden sich auch bereits im Bau, können aber voraussichtlich erst im nächsten Sommer dem Gebrauch übergeben werden. Einen Beweis für das ursächliche Verhältniß der Wasserversorgung Hamburgs zu der Verbreitung der diesjährigen Choleraepidemie liefern die später zu schildernden, ungleich günstigeren Gesundheitsverhältnisse Altonas, dessen Wasserversorgung zeitgemäßen Anforderungen entspricht. ...

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... durch die Art der Betheiligung des in Hamburg befindlichen Militärs an der Epidemie gebracht. In der Kaserne zu Hamburg, welche vom Beginn der Epidemie bis zum 24. August durch zwei Bataillone des 85. Infanterie-Regiments, später durch Ersatzreservisten (mit Unteroffizierfamilien etwa 500 Köpfe) belegt war, sind Choleraerkrankungen nicht vorgekommen, obwohl die Kaserne dieselben Boden- und Abfuhrverhältnisse hat wie der sie umgebende Stadttheil, in welchem viele Häuser von der Seuche heimgesucht wurden. Dagegen ereigneten sich 17 Erkrankungen im 3. Bataillon des 85. Regiments, welches bis zum 24. August in nächster Nähe der Kaserne in Bürgerquartieren lag, und 2 Cholerafälle in einer Batterie, welche nur eine Nacht in Hamburg zubrachte und gleichfalls in Bürgerquartieren untergebracht war. Das auffallende Verschontbleiben der Kaserne kann nur durch deren Wasserversorgung erklärt werden, welche ausschließlich aus Tiefbrunnen erfolgt. Die in den Gebäuden vorhandenen Auslässe der Elbwasserleitung, welche auch vorher nur das Wasser zur Klosetspülung geliefert hatten, waren bei Beginn der Epidemie geschlossen worden. Cholera in Wandsbeck und Altona. Bei dem gewaltigen Umfang, welchen die Choleraepidemie in Hamburg erreichte, und bei dem ausgedehnten Verkehr, welcher von jener Stadt ausgeht, war eine Verschleppung der Seuche nach anderen Orten unvermeidlich. Am meisten bedroht schienen naturgemäß die beiden mit Hamburg unmittelbar zusammenhängenden Städte Wandsbeck und Altona. In beiden Städten sind denn auch in der That Choleraerkrankungen vorgekommen, deren Zahl indessen im Verhältniß zur Einwohnerziffer gering blieb. In Wandsbeck, einer Stadt von etwa 20 000 Einwohnern, betrug die höchste Tageszahl der Erkrankungen, welche am 29. August sowie am 2. und 15. ...
... Die verhältnißmäßig geringe Betheiligung der Städte an der Epidemie erklärt sich ungezwungen durch ihre Wasserversorgung. Wandsbeck wird von der Elbe durch das dazwischen liegende Hamburg getrennt und bezieht sein Wasser mittelst einer guten Filteranlage aus 2 mit der Elbein keinerVerbindung stehenden Landseen. Altona, welches seine auch im Verhältniß zur Einwohnerzahl immerhin etwas bedeutendere Erkrankungsziffer vielleicht dem Umstande verdankt, daß es unmittelbar an der Elbe liegt, hatte gleichwohl geringeren Schaden durch die Epidemie, wie Hamburg, weil es sein der Elbe entstammendes Wasser bei Blankenese einer ausreichenden Filtration unterwirft, ehe dasselbe in die Röhren der Leitung abgelassen wird. Seit dem Ausbruch der Epidemie war der Betrieb der Altonaer Wasserwerke einer unablässigen aufmerksamen Beaufsichtigung unterzogen, und insbesondere die Filtrirgeschwindigkeit auf ein möglichst geringes Maß herabgesetzt worden. Verschleppung der Cholera aus Hamburg. Auch aus anderen Orten liefen fast gleichzeitig mit der amtlichen Feststellung der Seuche in Hamburg eine Anzahl von Meldungen über Choleraerkrankungen ein. Die Zahl der seitdem für die einzelnen Tage gemeldeten Erkrankungen und Todesfälle sowie die Zahl der an den einzelnen Tagen betroffenen Orte sind in1 den1 Anlagen 11 »r, und 2 graphisch dargestellt. Insgesammt1 sind1 in Deutsch-1 1 - ^ land 269 Orte von der Cholera heimgesucht worden. Die Lage dieser Orte unter Abstufung nach der Heftigkeit, mit welcher die Seuche in ihnen aufgetreten1 ist,1 erhellt aus der Karte (Anlage 3); der Gang der Seuche1 in den ein-1 -Av,,, zelnen Orten ist nach Berichtswochen in Anlage 4 tabellarisch s zusammengestellt. ...

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... Die Epidemie wurde durch mehrere gegen Ende August von Hamburg theils zu Schiff theils mit der Eisenbahn angelangte cholerakranke Personen auch weiterhin immer wieder neu angefacht und hat bis zum 10. September 43 Erkrankungen und 25 Todesfälle verursacht. Voizenburg. Der erste Cholerafall, welcher in Boizenburg festgestellt wurde, betraf einen Schiffer, der am 26. August erkrankte und Tags darauf verstarb. Wo sich dieser Mann die Krankheit zugezogen haben konnte, ist mit Bestimmtheit nicht ermittelt worden. Es ist indessen wahrscheinlich, daß der Schiffer mit aus Hamburg zugereisten Personen verkehrt hat; auch ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß das Boizenburger Hafenwasser schon damals verseucht war und jene Erkrankung verursacht hat; denn schon vorher waren auf Schissen, welche von Hamburg aus über Lauenburg gekommen waren, Choleratodesfälle erfolgt, und ungefähr gleichzeitig mit der ersten Erkrankung wurde im Hafen von Boizenburg eine auf einem Kahn befindliche Frau von der Seuche befallen. Am 27. August wurden vier cholerakranke Schiffer, welche von Hamburg gekommen waren, nach Boizenburg geschafft, und an demselben Tage wurde ein Kind, möglichenfalls in Folge des Verkehrs mit einem aus Hamburg zum Besuch eingetroffenen, übrigens nicht erkrankten Verwandten, von der Krankheit befallen. Die Entleerungen von mehreren dieser Kranken gelangten wahrscheinlich in den Altendorfer Teich, eine Ausbuchtung der die Stadt im Ringe umfließenden Boize, und nun erkrankten in schneller Folge eine Anzahl von Anwohnern jenes Teichs, welche ihr Trinkwasser diesem Gewässer entnommen hatten. ...
... Wie in Lauenburg, so erhielt auch in Boizenburg die einmal entstandene Epidemie mehrfach frische Nahrung durch neue Einschleppungen aus Hamburg. Im Ganzen sind in Boizeuburg 38 Personen an der Cholera erkrankt und 19 gestorben. Vereinzelte Erkrankungen kamen dort noch bis zur Mitte des Oktober vor. Berlin. Das Vordringen der Cholera im Elbgebiet stromaufwärts von Hamburg bedeutete für die Stadt Berlin bei dem regen Schifffahrtsverkehr auf Spree, Havel und Elbe eine beträchtliche Gefahr, welche um so größer erschien, wenn man berücksichtigt, daß Berlin bereits viele seiner Cholera epidemien durch die Spree bekommen hat. In der That wurde man rasch zu der Annahme gedrängt, daß das Spree- und Havelwasser durch zugefahrene Schiffe verseucht sei, da eine Reihe von Erkrankungen in Berlin erfolgte, welche nur auf diese Ansteckungsquelle zurückgeführt werden konnten. Nachdem bereits am 24. und 27. August 2 aus Hamburg zugereiste Personen als choleraverdächtig in dem zum Jsolirhaus umgestalteten Barackenlazareth Moabit Aufnahme gefunden hatten, wurden daselbst am 30. und 31. August 2 Arbeiter mit schweren Choleraerscheinungen eingeliefert, bei denen als einzige Erklärung der 40* ...

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... September während der diesjährigen Epidemie in Rußland bis dahin 195 195 Personen an der Cholera gestorben waren, ein ungefähres Bild. Oesterreich-Ungarn. Am 9. September verstarb in Podgorze, einer nur durch die Weichsel von Krakau getrennten Stadt, eine dreißigjährige Frau an der Cholera, ohne daß es gelang, die Anfteckungsquelle nachzuweisen. Im Anschluß daran ereigneten sich zunächst einige weitere Fälle der Krankheit; auch sind seitdem in Krakau und im übrigen Galizien noch mehrfach Choleraerkrankungen vorgekommen, ohne daß indessen die Seuche dort einen bedeutenden Umfang gewann: bis zum 31. Oktober waren für ganz Galizien nur 142 Choleraerkrankungen gemeldet worden. Eine ausgedehnte Choleraepidemie entwickelte sich dagegen Ende September in Budapest. Nachdem dort schon während des Juli und August Brechdurchfälle in größerer Anzahl vorgekommen, von fachmännischer Seite indessen nicht für asiatische Cholera erklärt worden waren, trat in den letzten Tagen des September eine plötzliche Zunahme von Erkrankungen ein, welche unter choleraähnlichen Erscheinungen verliefen und vielfach tödtlich endeten; die amtliche Feststellung, daß es sich wirklich um asiatische Cholera handelte, erfolgte am 1. Oktober auf Grund des Ausfalls der bakteriologischen Untersuchung. Die Cholera trat in Budapest anfangs heftig auf (nach amtlichen Berichten bis zum 8. Oktober bereits 254 Erkrankungs- und 89 Todesfälle) und verbreitete sich rasch über mehrere Städte der ungarischen Tiefebene. Auch in Wien kam es zu einigen Erkrankungen, welche indessen vereinzelt geblieben sind. Cholera im deutschen Weichselgebiet. Das Umsichgreifen der Cholera in Polen, Galizien und Ungarn hat bisher ernstere Folgen für Deutschland noch nicht gehabt. ...

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... Inzwischen hatte sich in der Reichsverwaltung das Bedürfniß nach einem zwischen Wissenschaft und Praxis vermittelnden Organe herausgestellt, welches eine freiere Stellung als das Kaiserliche Gesundheitsamt besitzen mußte, um die Entwickelung der Seuche verfolgen, die Nutzbarmachung der Epidemie für die Wissenschaft in die Wege leiten und den Behörden des Reichs wie der Bundesstaaten auf schnellstem Wege Auskunft und Rath ertheilen zu können. Zur Erledigung dieser Aufgaben wurde am 11. September eine Cholerakommission in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Kaiserlichen Gesundheitsamt errichtet. Die Kommission setzte sich aus mehreren vom Reichskanzler berufenen Fachmännern, sowie aus Vertretern der hauptbetheiligten Reichsbehörden und Bundesregierungen zusammen. Die Leitung der Geschäfte und die Vertretung nach außen wurde dem Direktor des Gesundheitsamts übertragen. Die Cholerakommission hielt ihre erste Sitzung bereits am 12. September ab und ist seitdem wöchentlich ein- bis zweimal zusammengetreten. Zur Ermittelung des Ganges und der Verbreitung der Cholera hat die Kommission von dem ihr verliehenen Rechte, sich behufs Erlangung von Auskunft mit den ihr bezeichneten Behörden des Reichs und der Bundesstaaten unmittelbar in Verbindung zu setzen und Sachverständige zu Erhebungen an Ort und Stelle zu entsenden, mehrfach Gebrauch gemacht. Hierdurch ist es ihr zu verschiedenen Malen gelungen, Klarheit über Seuchenausbrüche zu erhalten und den Ortsbehörden bei der Unterdrückung der Seuche behülflich zu sein, so beispielsweise gelegentlich des Auftretens der Cholera in Stettin und später in Miesenheim (Kr. Mayen). ...
... Die bisher angeführten Maßregeln, welche von Reichs wegen aus Anlaß der Choleragefahr getroffen wurden, bezweckten die gleichmäßige Durchführung der Ermittelungen über Gang und Verlauf der Epidemie, wie auch der Seuchenabwehr im Allgemeinen. Die Reichsbehörden fanden außerdem mehrfach Anlaß, bei der Verhütung der Weiterverbreitung der Cholera an besonders bedrohter Stelle mitzuwirken. Gesundheitspolizeiliche Kontrole der Seeschiffe. Auf Grund der bereits an anderer Stelle erwähnten Vereinbarungen vom Jahre 1883 (Seite 319) über die gesundheitspolizeiliche Kontrole der Seeschiffe wurden die Regierungen der Bundesseestaaten von dem Ausbruch der Cholera in einzelnen deutschen Hafenplätzen unverzüglich in Kenntniß gesetzt und ersucht, die aus diesen Häfen kommenden Schiffe der Ueberwachung zu unterwerfen, und zwar in Bezug auf Hamburg-Altona am 24. August, Bremen am 3. September, Kiel am 2. September und Stettin am 15. September. Seuchenabmehr in Hamburg. Eine besondere Aufmerksamkeit wurde den Maßregeln geschenkt, welche Hamburg zur Seuchenabwehr traf, weil die Unterdrückung der Cholera in dieser wichtigsten Handelsstadt des Reiches eine über die Grenzen des Staatsgebiets weit hinausgehende Bedeutung hatte. An den ersten Sitzungen einer zur Prüfung der Gesundheitsverhältnisse Hamburgs aus Vertretern des Senats und der Bürgerschaft gebildeten Kommission, welche in der Zeit vom 14. bis 16. September stattfanden, betheiligte sich das Reich ...


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