... Demnach ist also die Statistik der Epidemie in der Umgebung von Leipzig ganz in derselben Weise unvollkommen, und man muß ihr denselben Vorwurf machen, wie Sie ihn der Müllerschen Statistik gemacht haben, und weshalb Sie die Müllersche Statistik reprobiren. Meine Herren, ich will dies aber nicht einmal thun; meines Erachtens ist die Arbeit des Herrn Dr. Siegel — ich habe sie der Freundlichkeit des Herrn Geheimrathes zu verdanken — eine sehr sorgfältige und gut zusammengestellte, obgleich sie ja zu dem meinen Ansichten entgegengesetzten Resultate kommt. Ich will also diese statistischen Daten gar nicht bemängeln; ich will nur noch einmal erstens das Eine hervorheben, daß, wie allgemein zugegeben ist, in dieser Epidemie auch eine ziemlich große Anzahl von gut geimpften Kindern erkrankt und auch gut geimpfte Kinder gestorben sind. Das ist für mich das Durchschlagende; auf ein paar Kinder mehr oder weniger kommt es mir dabei nicht an. Ich meine, es ist ein logischer Schluß, der nicht bekämpft werden kann, wenn ich sage, daß die Theorie des Schutzes an sich unhaltbar ist, daß man sie vielleicht höchstens noch als eine Hypothese bezeichnen kann, welcher man nun die widersprechenden Thatsachen in irgend einer Weise adäquat machen muß, und zweitens, daß es jedenfalls nöthig ist, weitere Untersuchungen anzustellen, ob sich nicht etwa überall herausstellt, daß auch die geimpften Kinder nicht nur zahlreich erkranken, sondern auch dem Pockentode unterworfen sind. Außerdem aber kommt sehr wesentlich in Betracht, was Herr vr. ... ... Betrachten Sie ferner die Krefelder Epidemie von 1871. Krefeld ist eine Stadt von 80 000 Einwohnern mit ungefähr 60 Prozent Proletariat; sie ist ziemlich gleichmäßig durchgeimpft. Die wohlhabende Bevölkerung wohnt auf den Wällen. Zn dieser Epidemie ist in all den Wohnungen, die eine geordnete Ventilation hatten, die von einem bedeutenden Luftmeer umgeben waren, kein einziger Pockenfall vorgekommen; die Erkrankungsfälle beziehen sich alle auf die Straßen, wo die Bevölkerung in engen Kasernen zusammenlebt. Meine Herren, das ist doch ein so schlagendes Beispiel, wie es schlagender kaum gefunden werden kann. Zn dieser Stadt sind die Zmpfverhältniffe von absolut keiner Wirkung gewesen, wenigstens von keiner solchen, daß man einen Schutz klar und deutlich nachweisen könnte. Sie sehen also, daß man doch wohl gezwungen ist, auf die soziale Lage ein viel größeres Gewicht zu legen, als wie es mir geschienen hat, wenigstens gestern thatsächlich von den Herren beliebt worden ist. Ich möchte nur noch einmal eine Analogie anwenden. Nehmen wir an, hier bricht der Typhus aus und wir haben eine Typhusmortalität von 5 bis 10 Prozent, hier, wo wir die Abortiv-Kalomelkur gebrauchen; gleichzeitig haben wir den Typhus in Oberschlesien, wo keine Kalomelkur gebraucht wird, und die Mortalität dort beträgt 30 bis 40 Prozent: soll da in der Nichtanwendung der Kalomelkur die Ursache der größeren Mortalität Schlesiens gefunden werden? Nein, gewiß nicht, sondern es sind lediglich die sozialen Verhältnisse, mit einem Worte, der Hunger, wie dies von Virchow mit positiver Gewißheit nachgewiesen ist. ...
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