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Verhandlungen des Reichstages. - Berlin, 1885
Bd.: 85, 1. 1884/85
Signatur: 4 J.publ.g. 1142 yb,A-85

ID: 00018455
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... Auch das können wir nicht ohne Weiteres behaupten; so groß der Nutzen der Kasernirung der Truppen für die hygienischen Verhältnisse ist, so ist doch andererseits das Zusammenwohnen der Leute wohl geeignet, die Verbreitung einer Epidemie innerhalb der Kaserne zu befördern, sobald genügender Ansteckungsstoff hineingekommen ist. Daß dem so ist, erfahren wir ja täglich an anderen ansteckenden Krankheiten; wir beobachten es an der Cholera, am Typhus, am Scharlachfieber, an den Masern; alle diese Krankheiten sind, wie aus einer allerdings nur kleinen, aber immerhin einen Anhalt bietenden Zusammenstellung hervorgeht, z. B. im Bereiche des Gardekorps zahlreicher aufgetreten als in der Civilbevölkerung Berlins. Wir sind leider noch nicht im Stande, solcher Ausbreitung von Infektionskrankheiten in den ...

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... Als nun ein paar Monate später eine Epidemie auftrat, da starben alle Söhne, und die Töchter blieben am Leben. Angesichts dieses Ereignisses mußten sich selbst die beschränkten Indier von der Macht der Thatsache überzeugen. Sie entschlossen sich, künftig nur die Söhne, nicht aber die Töchter impfen zu lassen. (Heiterkeit.) Ganz besonders gewähren auch engbegrenzte Pockenepidemien ein anschauliches Bild von der segensreichen Wirksamkeit der Impfung. Zn dieser Beziehung steht mir eine zuverlässige Beobachtung aus dem Jahre 1871 zu Gebote. Im Regierungsbezirke Arnsberg trat im Jahre 1871 nur in einem Dorfe von 532 Einwohnern eine Pockenepidemie auf, welche von einem Manne und seinen zwei Kindern ausging. Der erstere hatte auf seinen Wanderungen als Marketender sich die Krankheit zugezogen. Die Erkrankung und der Tod des jüngsten Kindes hatte die Folge, daß 78 Menschen von den Pocken befallen wurden, weil die Leute noch wenig Pockenkranke gesehen hatten und sehr neugierig Aktenstücke zu den Verhandlungen des Reichstages 1884/85. waren, diese neue Krankheit kennen zu lernen; auch der Ortsvorsteher, der nicht wußte, was er aus der Sache machen sollte, nahm die Leiche in Augenschein und wurde ein Opfer dieser Krankheit. Es dauerte einige Zeit, bis ein Arzt requirirt wurde, und dann erst wurde durch fleißige Vaccination und Revaccination der Seuche Halt geboten. Auch der Todtengräber, der sich gegen die Krankheit gestählt glaubte, wurde für seine Gleichgültigkeit bestraft. Von Kindern unter 10 Jahren befanden sich unter den Erkrankten nur 9 (inkl. ...
... Nach dem Erlöschen der Epidemie ist kein Fall dort mehr vorgekommen. Noch eins wollte ich erwähnen. Eine ganz besonders sorgfältige Statistik hat der Gesundheitsrath von Bremen geliefert. Man hat nachgewiesen, daß bei allen Kindern unter 10 Jahren das Sterblichkeitsverhältniß 2 Prozent beträgt bei den Geimpften, bei allen Ungeimpften etwa 76 Prozent. Die Angaben sind zuverlässig, weil dort der Gesundheitsrath der Statistik große Aufmerksamkeit zuwendet. Außerdem hat der Sanitätsbericht eine vergleichende Uebersicht geliefert und weist darauf hin, daß im Jahre 1881, in welchem Jahre im ganzen Deutschen Reiche in den Städten über 15 000 Einwohnern nur 311 positiv nachgewiesene Sterbefälle an Pocken vorgekommen sind, Wien schon während des ersten Quartales 278 Todesfälle, Paris 498, London sogar 614 Todesfälle hatte. Diese Thatsachen sprechen klar und deutlich genug und sind ganz frei von subjektiven Anschauungen, es handelt sich nur um verbürgte Thatsachen. Herr Dr. Siegel: Zch möchte nur mit ein paar Worten auf die Einwendungen eingehen, die gegen meine Statistik vorgebracht wurden. Es ist da hervorgehoben worden, daß sie deshalb weniger Werth hätte, weil sie, soweit sie Morbilitätsstatistik ist, sich auf nur 721 von den überhaupt vorgekommenen 1 485 Todesfällen beschränkt. Meine Herren, diese 721 Todesfälle entsprechen den 3 881 von den Aerzten beobachteten Erkrankungen, und das Resultat ist eben das schon gestern dargelegte. Wenn Herr Dr. ...

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... Demnach waren vor 1870 die Verhältnisse denen von Preußen und Oesterreich beiläufig ähnlich, bei der 1870 er Epidemie aber, zu einer Zeit, wo in Belgien kein Krieg herrschte, war die Anzahl von über 4 000 Blatterntodten auf die Million Einwohner nicht allein höher, als die betreffende Zahl in Preußen, sondern auch wesentlich höher als die Zahl von 1873 in Oesterreich. Das folgende Jahr 1872 war mit einer Anzahl von 1 689 Blatterntodten auf die Million ebenfalls noch sehr stark betheiligt, dann folgten einige Jahre mäßigen Abfalles, in den beiden letzten Trimmen aber kommen, ohne daß darüber dort große Worte gemacht würden, zusammen je 1 600 bis 1 700 auf die Million, d. h. etwa ebensoviel, als die süddeutschen Staaten in den Epidemiejahren 1871 und 1872 hatten, wo diese Zahlen einen ganz kolossalen Eindruck machten. Es ist also jetzt in Belgien dasselbe Verhältniß wie in Oesterreich, dessen Zahlen übrigens in meinen Tabellen für einige der letzten Jahre wesentlich höher sind, als die der Tafeln des Gesundheitsamtes. Woher die Differenz stammt, weiß ich nicht, ich glaube, daß meine Zahlen richtig sind. Da in Preußen und einigen anderen Ländern erst in ganz nahe zurückliegender Zeit der Impfzwang eingeführt worden ist, so lag die Untersuchung nahe, ob sich der Einfluß dieser Einführung ziffernmäßig nachweisen ließe aus der Pockenstatistlk jedes einzelnen Landes selbst, und zwar durch Veränderungen in der Mortalität gewisser Altersklassen. ...

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... Wenn man nun nach den englischen Zusammenstellungen, die seit vielen Jahren mit großer Genauigkeit veröffentlicht werden, die Blatterntodten aus den Altersklassen von über 15 Jahren mit denen unter 15 Jahren in beliebige Unterabtheilungen in Relation setzt, so stellt sich heraus, daß von 1871 ab, das heißt von der Zeit des verschärften Impfzwanges an, auf 1 000 erwachsene Blatterntodte regelmäßig viel weniger Kinder fallen als vorher, und zwar ganz unabhängig von der jeweiligen absoluten Ausbreitung der Epidemie. Auf einen Punkt möchte ich noch eingehen, den Herr Dr. Böing hervorgehoben hat, auf die sogenannte Priorität der Erkrankung der Ungeimpften. Er hat gesagt, es erkranken immer zuerst die Geimpften. Ich möchte das nicht Wort haben; das ist eine angebliche Thatsache, die zuerst von irgend jemand behauptet worden ist, dem es gerade gepaßt hat, und die Behauptung wird nachgesprochen. Es verhält sich damit ebenso, als mit der bekannten Behauptung, daß in den Städten mehr Leute an Pocken sterben als auf dem Lande; auch das läßt sich in vielen Fällen nicht beweisen und ist zum Theile auch nicht einmal richtig; bei uns sterben zum Beispiel auf dem Lande etwas mehr. Was aber die Frage der Priorität betrifft, so habe ich in meinen historischen Notizen aus dem Großherzogthum Hessen vom Anfange des Jahrhunderts bis jetzt eine ganze Reihe von Fällen gesammelt, in denen Ungeimpfte die ersten Kranken einer Ortsepidemie waren. Einen wesentlichen Werth möchte ich auf die Sache nicht legen; denn darauf müssen wir immer zurückkommen, daß ein Geimpfter noch lange nicht geschützt ist. ...

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... Fall 29 Tage nach dem Beginne der Epidemie, angesteckt von seiner pockenkranken geimpften Mutter, und genas. Laut Ausweises des Stadtphysikus waren aber 1427 ungeimpfte Kinder beim Beginne der Epidemie ortsanwesend, von denen keines erkrankte. Mit der Statistik vor 1874 hat man impffreundlicherseits eigentlich eine Art doppelter Buchführung eingerichtet. Wenn es sich darum handelte, durch die Mortalitätszahlen den Schutz der Impfung gegen das Sterben darzustellen, hat man diejenigen, welche als geimpft resp. revaccinirt notirt waren, als geschützt gerechnet, unbekümmert darum, ob nach dem Momente der Vaccination oder Revaccination zwanzig, dreißig oder vierzig Jahre und mehr verflossen waren. Man trennte einfach Geimpfte und Ungeimpfte, wobei die meist geimpften Erwachsenen gegenüberstanden den meist ungeimpften kleinen Kindern. Bezüglich des Erkrankens, wo die meist geimpften Erwachsenen die Mehrzahl bilden, heißt es aber: die als geimpft Aufgeführten waren eigentlich nicht geschützt, oder haben ihren Schutz im Laufe der Jahre wieder verloren. Existirt aber bei einem großen Theile der Erwachsenen der Schutz nicht mehr, dann müssen sie wieder von der Seite der Geimpften zurück auf die Seite der kleinen schwachen und ungeimpften Kinder mit ihrem großen Mortalitätsprozente; die Rechnung bezüglich Erkrankungs- und Sterbeprozent wird dann allerdings anders lauten. ...
... Lotz-Basel sagt in seinem Buche „Pocken und Vaccination: wenn nicht geimpft gewesen wäre, so würden in der Schweiz, in der letzten großen Epidemie, 5 000 Menschen mehr an den ...

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... Es ist sehr wohl möglich, daß sich in Bayern 100 000 ungeimpfte Kinder befinden, eine Epidemie ausbricht, und diese Kinder nicht krank werden; sie sind eben nicht angesteckt worden. Nun ist hier die Statistik, wie mir scheint, ein Prokrustesbett, auf welchem man sich die Ziffern zurechtlegen kann, wie man will. Deswegen lege ich auf unsere vaterländische Statistik als eine gerade durch die einfache Methode ihrer Herstellung zuverlässige, einen großen Werth. Ich wüßte nicht, daß in der Statistik, welche ich aufgestellt habe, irgend etwas, was für den Beweis der Schutzkraft der Impfung nothwendig ist, nicht enthalten ist. Ich bin nicht befugt, über die Verhältnisse der Armee zu sprechen; da aber Bayern hier einen militärärztlichen Vertreter nicht hat, so darf ich aus den Sachen, die im Drucke erschienen sind, wenigstens darauf hinweisen, wie es sich während des Feldzuges mit den Pocken verhalten hat. Der Spezialbericht wird in dem großen Generalstabswerke noch folgen, aber es ist vorläufig schon von einem ganz zuverlässigen und außerordentlich vorurtheilsfreien Beobachter, vom Oberstabsärzte vr. Seggel in München, ein Bericht veröffentlicht über die Krankenbewegung in dem ersten bayerischen Armeekorps während des französischen Krieges 1870/71 im ersten Bande der militärischen Zeitschrift. Das Ergebniß ist außerordentlich günstig für die bayerische Armee gewesen, obwohl die bayerische Armee in Frankreich sich in außerordentlich schlimmen Situationen befand; ich darf an die Verhältnisse des ersten Armeekorps erinnern, welches zwischen Paris und Orleans und bei Orleans wahrlich nicht auf Federn gebettet war. ...

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... Zch verweise auf die Sanitätsberichte, die in 15 Bänden gedruckt sind und einen 25jährigen Zeitraum umfassen, in welchem jede einzelne Epidemie, ich möchte fast sagen, jede einzelne Erkrankung, in Bezug auf ihren Verlauf genau beschrieben ist. Es ist das ein Material, was ich ja nicht vorführen kann, weil es viel zu groß ist, aber das für alle Zeiten feststehen wird. Nun noch eine Bemerkung über Herrn Kolb, welcher so oft zitirt wird. Zch kannte ihn persönlich und war mit ihm in der zentralstatistischen Kommission und ich habe meinen Kollegen sehr hoch geschätzt. Aber ich kann mich nicht genug wundern, daß er immer als Zmpfgegner angeführt wird. Er hatte gegen unsere Statistik absolut nichts zu erinnern; die Erhebungen und deren Ergebnisse waren ihm bekannt; von Herrn Ör. Kolb wurde keinerlei Erinnerung erhoben, und es findet sich auch nichts in den diesbezüglichen Verhandlungen vor. Kolb war Zmpfgegner aus rein politischen, nicht aus sachlichen und nicht aus technischen Gründen. Vorsitzender: Es ist ein Antrag von Herrn Dr. Weber eingegangen: Es werde den Mitgliedern der Kommission je ein Exemplar der eben erschienenen Militär-Pockenstatistik zur Information übergeben. Der Antrag würde im Falle der Annahme doch schließlich an meine vorgesetzte Behörde zu befördern sein. Zch kann nur sagen, daß weder mir noch meiner Behörde weitere Exemplare zur Verfügung stehen; eins ist an das Gesundheitsamt geliefert worden und das andere liegt mir vor. Zch darf wohl Herrn Oberstabsarzt Dr. Großheim bitten, sich bei seinem Herrn Chef Instruktionen einzuholen, ob es möglich ist, dem Antrage Folge zu geben. ...
... denn wenn in einer Bevölkerung, die bis zu 99 Prozent durchgeimpft ist, eine Epidemie ausbrechen kann, die in einem Zahre über 30 000 Pockenkranke und circa 5 000 Todte hat, so ist das doch ein Beweis, daß diese Durchimpfung, wie sie höher nie erzielt werden kann, nicht einmal so viel Schutz gewährt, daß die Todesfälle geringer werden als in einzelnen der schlimmsten Epidemien im vorigen Jahrhundert; denn es giebt nicht viele Epidemien im vorigen Jahrhundert, deren Mortalität die von Bayern im Zahre 1871 übertroffen hätte. Wie wollen Sie nun durch verschärfte Maßregeln bei der Impfung bewirken, daß noch ein größerer Schutz erzielt wird? Sie können doch nicht von 2 zu 2 Zähren oder von 5 zu 5 Zähren impfen! Das ist doch undurchführbar. Angenommen nun mit Herrn Dr. Siegel, es seien 99 Prozent Geimpfte in Bayern vorhanden, so bleibt 1 Prozent Ungeimpfter übrig. Meine 200 000 Ungeimpfte würden sich dann auf 50 000 reduziren respektive auf 40 000; von diesen erkrankten 47 Erwachsene, das macht eine Mor- ...

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... Ich erinnere mich aus der Epidemie von 1871/72, daß es ganz auffallend war, wie gerade die beim Militär revaccinirten Männer in den mittleren Lebensjahren verschont blieben, während unverhältnißmäßig viel Frauen erkrankten. Herr vr. Weber hat dann noch die Theorie aufgestellt, daß die Abnahme der Pockenmortalität nach einer größeren Pockenepidemie dadurch zu erklären sei, daß das Pockenmiasma durch die Pockenepidemie selbst zerstört oder gelöscht werde. Gesetzt den Fall, es wäre so, dann müssen wir annehmen, daß in Preußen durch die Epidemie von 1871/72 das Pockenmiasma bis auf ein Minimum vernichtet sei und daß es in diesem Lande nur noch in ganz kümmerlicher Weise fortvegetirt. Wie kommt es nun aber, daß in Oesterreich und allen außerdeutschen Ländern, die ganz gleiche, unter Umständen noch stärkere Epidemien durchgemacht haben als Deutschland, das Pockenmiasma schon längst in der früheren Höhe wieder zur Wirkung kommt. Wir können unmöglich bei derartigen Betrachtungen die außerdeutschen Verhältnisse außer Acht lassen. Herr vr. von Scheel: Meine Herren, nur ein paar kurze Bemerkungen in Bezug auf den Vortrag des Herrn vr. Weber. Zuerst eine prinzipielle Frage. Herr vr. Weber hat den Werth der Statistik einerseits und der persönlichen Erfahrung andererseits gegenübergestellt und einen besonderen Nachdruck auf den der Statistik gelegt. Zch wäre ja nun gewiß der erste, der die Statistik als werthvoll zu vertheidigen hätte. Zch kann aber in diesem Falle die Gegenüberstellung, wie sie von Herrn vr. Weber gemacht worden ist, nicht als zutreffend anerkennen. ...
... Ob die Zahl, welche wir über die Pockentodesfälle im Zahre 1866 angeführt haben, Anspruch auf absolute Wahrheit hat, kann ich noch nicht mittheilen, ich glaube aber, daß dieses eine Zahr ganz ohne Einfluß auf die Sache ist; denn wenn sich auch wirklich durch unsere Erhebungen Herausstellen sollte, daß im Zahre 1866 die Zahl der Pockentodten eine etwas größere gewesen ist, als bisher nach unseren amtlichen Vorlagen bekannt ist, so kann sich eine größere Epidemie damals sicher nicht entwickelt haben. Sollte die Zahl im Zahre 1866 ein klein wenig gestiegen sein, so ist das auf die gleiche Ursache zurückzuführen, der wir im Zahre 1870 die erhöhte ...

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... Böing uns nicht bessere Beweise dafür beibringen kann, daß die Ungeimpften in Bayern während der Epidemie sich ebensogut oder noch besser gestanden hätten, als die Geimpften, dann wird er schließlich doch noch seine Zusage erfüllen und ein Verfechter des Jmpfgesetzes werden müssen. Ich habe noch eine kurze Bemerkung zu machen, welche dazu dienen soll, einen anderen Irrthum, welcher sich möglicherweise einschleichen kann, zu berichtigen. Es war die Rede davon, daß die Abnahme der Pocken nach der Epidemie von 1871 und 1872 nicht mit dem Jahre 1874 zusammenfalle, sondern schon 1873, also vor Einführung des Jmpfgesetzes, begonnen habe. An und für sich ist es richtig, daß 1873 viel weniger Pockentodesfälle in Preußen vorkamen, als in den beiden vorhergehenden Jahren. Aber sie betrugen doch immer noch 35^ auf 100000 Lebende, während nach dem Inkrafttreten des Jmpfgesetzes diese Zahl niemals über 3,g hinausgegangen ist. Also sie betrug in jenem Jahre noch das Zehnfache. Man kann demnach nicht sagen, daß schon vor dem Inkrafttreten des Jmpfgesetzes eine solche Abnahme der Pockenmortalität stattgefunden habe, wie nachher. Es bleibt also zweifellos als Ursache für die ganz er-165» ...

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... 1316 hebliche Abnahme in den Zähren 1875, 1876 und 1877 die vereinigte Wirkung der durch die große Epidemie bedingten Immunität und des Zmpfgesetzes. Dann ist noch die Rede davon gewesen, daß in Langres die französischen Truppen in Folge der Strapazen und des Eingeschlossenseins so bedeutende Verluste an Pocken gehabt hätten. Zch kann über diese Angelegenheit aus eigener Erfahrung sprechen, da ich während des Krieges fast zwei Monate lang einem in der Nähe von Langres befindlichen Lazarethe angehörte. Die Besatzung von Langres schien damals viel weniger das Bewußtsein des Eingeschlossenseins zu haben, wie die geringe Bedeckungsmannschast des Lazarethes, bei dem ich mich befand. Die Besatzung von Langres ist bekanntlich während des ganzen Feldzuges nur 1 bis 2 Wochen cernirt gewesen, im Uebrigen aber hat sie sich der größten Freiheit erfreut und hat die ganze Umgegend mehr oder weniger beherrscht. Zch ersehe nun aber aus den Mittheilungen der Militär-Medizinal-Abtheilung des Königlich preußischen Kriegsministeriums, Seite 83, daß die französische Armee und Besatzung von Metz, welche vielleicht zehnmal größer war, als die Besatzung von Langres, während der Belagerung 176 Pockentodesfälle hatte, während die Garnison von Langres — allerdings in 7 Monaten — bei einer Stärke von nur 15 000 Mann 334 Todesfälle an Pocken gehabt hat, also fast doppelt so viel als die zehnmal größere Armee in Metz und, beiläufig bemerkt, mehr als die gesammte deutsche Armee während des Aufenthaltes in Frankreich. ...

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... Weber sprach von der Epidemie in München im Jahre 1871 und legte auf die Thatsache Werth, daß 551 Männer erkrankt sind und nur 470 Frauen. Nun nimmt Herr Or. Weber an, daß die 551 Männer alle revaccinirt waren, die Frauen aber nicht. Der Schluß, glaubeich, ist nicht ganz richtig. Erstens ist es doch nicht wahrscheinlich, daß alle 551 Männer beim Militär waren, sondern es wird eine Reihe solcher dabei gewesen sein, die nicht gedient haben. Andererseits werden auch unter den Frauen welche gewesen sein, die revaccinirt waren. Ich darf hier daran erinnern, daß die Revaccination bei uns auch erst mit dem Reichsimpfgesetze als Regel entstand, und daß früher bei uns die Sache so gehalten wurde, daß die Leute sich häufig revacciniren ließen, wenn sie heiratheten. Es war das so üblich. Es können somit unter den Frauen sehr viele gewesen sein, die revaccinirt waren. Diese Ziffern sind also nach der Richtung, wie Herr Or. Weber sie verwerthet hat, nicht zu verwerthen. Herr Or. Böing: Ich möchte nur betonen, daß, wenn Herr Geheimrath Or. Koch zugiebt, daß 30,ß Prozent der Geimpften in einem gut durchimpften Staate starben, dann die Pockensterblichkeit nicht besser ist, als im vorigen Jahrhundert, so daß wir effektiv, wenn es sich so verhält, durch die Impfung nichts gewonnen haben. Wenn ferner Herr Geheimrath Or. Koch sagt, daß die Pockenmortalität dort am größten sei, wo die Jmpsagitation am größten gewesen sei, so ist die Sache nach meinen Erfahrungen umgekehrt. ...

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... Diese Abnahme ist wesentlich mit bedingt gewesen durch die Rückwirkung der großen Epidemie. Wir sehen ganz dieselbe Erscheinung in allen Pocken-Mortalitätstabellen. Zn Oesterreich geht z. B. in Folge der Pockenepidemie die Mortalität im Zahre 1878, also zwei bis drei Zahre nach dem Aufhören der Epidemie, so weit herunter, wie sie nach den uns zu Gebote stehenden Angaben überhaupt in Oesterreich noch niemals beobachtet ist. Dann aber geht sie sehr rasch wieder in die Höhe, im Zahre 1879 auf 50,z und im Zahre 1881 auf 78,z. Der Einfluß der Epidemie macht sich also nur sehr wenige Zahre geltend, durch den Nachwuchs der Nichtgeimpften und durch Zuzug von Nichtgeimpften wird die Bevölkerung sehr bald wieder mehr empfänglich für das Pockengift. In Preußen ist das nicht der Fall, weil von da ab allmälig immer mehr und mehr die Wirkungen des Zwangsimpfgesetzes sich geltend machen. Nun macht aber Herr Dr. Böing den Einwand, daß diejenigen Altersklassen, welche geimpft wurden, noch nicht hinreichen könnten, um den Rückgang der Pockensterblichkeit zu erklären. Zn Bezug hierauf ist aber zu berücksichtigen, daß in den Zähren 1872 und 1873 überall, wo damals noch Pocken herrschten, selbst bis 1874 hin, wie ich aus eigener Erfahrung bezeugen kann, im ganzen Lande Maffenimpfungen vorgenommen sind. Zch habe selbst Tausende von Menschen geimpft, nicht blos Schulkinder, sondern alles, was unter dem Schrecken der damals herrschenden Epidemie den Wunsch hatte, sich impfen zu lassen. ...
... Wir wollen auch nicht mit einer Geschichte Alles beweisen, aber man möge es ansehen als eine Artigkeit, auf die kleine Epidemie von Grevenstein auch mit einer Kleinigkeit zu antworten. Von Herrn von Kerschensteiner bin ich mißverstanden worden. Zch habe nicht behaupten wollen, daß diese 559 alle im Heere gesteckt hätten, sondern ich habe nur gesagt, daß ein größerer Prozentsatz unter der männlichen Bevölkerung vom 20. bis 50. Lebensjahre revaccinirt ist, als unter der weiblichen Bevölkerung. Wenn das Verhältniß umgekehrt gewesen wäre, daß also die männliche Bevölkerung in Bayern zwischen dem 20. und 50. Lebensjahre weniger an den Pocken erkrankt und mit einem geringeren Mortalitätsprozente daran gestorben wäre, so wäre uns die praktische Anwendung gegen uns sicherlich nicht erspart geblieben, daß die Impfung hiervon die Ursache sein müsse. Zum Schluffe noch eine persönliche Bemerkung, mit der ich glaube eintreten zu müssen für Kolb. Es ist uns ein großer Schmerz gewesen, daß wir Kolb, diese bewährte statistische Autorität für uns, nicht haben hier sehen können, aber ich weiß nicht, inwiefern Herr von Kerschensteiner dazu berechtigt ist, anzunehmen, daß seine Motive auf einem anderen Felde gelegen hätten, als auf dem sachlichen Felde. Das, was Kolb wenigstens geschrieben hat, lautet anders ; und da es sich hier um eine authentische Deutung seiner Intentionen in der Zmpffrage handelt, so möchte ich um die Erlaubniß bitten, kurz zu verlesen, was Kolb über die Ursache schreibt, wegen deren er an die Sache herangegangen ist. Zn seiner Brochüre „Zur Zmpffrage. ...

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... Zch spreche nicht aus Lokalpatriotismus, sondern im Großherzogthume Baden besteht seit dem Zahre 1811 die Zwangsimpfung, und zwar wird sie seit 1811 durch beamtete Aerzte mit großer Exaktheit ausgeführt, und mit Ausnahmen der Epidemie von 1871 und 1872, die sich allerwärts als Ausnahmezustand erwiesen hat, ist die Bevölkerung für die Blatternkontagion fast gar nicht empfänglich. Zch will noch einen Fall erzählen, der in der Nähe von Straßburg vorkam. Es kehrte ein Mann aus Amerika zurück, der über Holland gereist war, und der mit einem Gesichte voll Krusten in einen Ort kam, dort seine Verwandten begrüßte und in Arbeit trat und bei verschiedenen Leuten im Dorfe hemmging. Man hatte es allgemein für einen Hautausschlag irgend welcher Art betrachtet, vielleicht syphilitischer Natur oder dergleichen. Nach einiger Zeit erkrankte plötzlich seine Schwester, eine ältere Frau, an den Blattern und starb, und der Mann hat dann selbst angegeben, daß er auf dem Schiffe von Amerika her mit mehreren Leuten zusammen gewesen sei, die die Blattern gehabt hätten; er sei auch krank geworden und da habe sich dieser Krustenausschlag entwickelt. Das Dorf hat ungefähr 500 Seelen, und wenn eine solche Znfektionsgelegenheit in solchem Umfange eine solche Bevölkerung trifft, ohne mehr als eine dafür empfängliche Person zu treffen, so ist doch anzunehmen, daß durch eine Zwangsimpfung es nach und nach gelingen muß, eine Immunität der Bevölkerung herbeizuführen, wenn man zugleich die Einschleppung verhindert. Herr Dr. ...

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... In den Jahren 1871 und 1872 ist die stärkste Orts-Epidemie, welche je in Preußen existirt hat, ausgebrochen in der Stadt Bochum, und zwar steht in der Liste der Mortalität Bochum obenan. Es sind von der gesammten Bevölkerung etwa 3^/2 Prozent an den Pocken gestorben. Unmittelbar mit der Stadt Bochum zusammenhängend liegt die Bochumer Gußstahlfabrik mit ihren Arbeiterhäusern, in denen 700 Arbeiter mit ihren Familienangehörigen untergebracht sind. Es ist mir positiv versichert worden — ich berufe mich auf das Zeugniß des Dr. Oidtmann in Linnich, der selbst an Ort und Stelle gewesen ist und die Verhältnisse sich angesehen hat, so daß es sich allein darum handelt, ob die Thatsache konstatirt werden kann oder zurückgewiesen werden muß —, daß von diesen 700 Arbeitern, die nicht aä üoo revaccinirt worden waren, also bezüglich des Jmpfzustandes unter den gleichen Verhältnissen lebten wie die übrige Bevölkerung in Bochum, nur 2 Personen leicht an den Pocken erkranktm, ohne daß in dem freien Verkehre jener Arbeiterfamilien mit der Stadtbevölkerung irgend eine Sperre bestanden hätte. Und der große Van Zwieten schreibt im vorigen Jahrhundert — ich zitire diese Stelle aus Professor Vogts „Für und wider die Impfung Seite 140 —: „Man beobachtete bisweilen, daß große Städte frei von Pocken waren, während sie in den umliegenden Dorfschasten epidemisch wütheten, und daß umgekehrt einzelne große Städte von der Krankheit ganz überzogen wurden, während die benachbarten Dörfer gesund blieben, obgleich die Bewohner täglich miteinander in Berührung kamen. Es ist also diese absolute Ansteckungsfähigkeit der Pocken doch nicht nachgewiesen. Vorsitzender: Vom Herrn Geheimrathe Dr. ...

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... Was nun aber andererseits die löschenden Ursachen betrifft, die eine Begrenzung der Epidemie herbeiführen, so muß ich sagen, daß meinen Erfahrungen nach überall löschende Ursachen darin bestehen, daß die Bevölkerung den Schreck bekommt, sich impfen läßt, oder den abschließenden Zwangsmaßregeln mit größerer Theilnahme gegenübersteht, als es so lange geschieht, wie nicht eine gehörige Mortalität auftritt. Sowie diese auftritt, kommt sowohl bei Blattern wie beim Typhus und bei der Ruhr die Bevölkerung mit größerer Bereitwilligkeit den Absperrungsmaßregeln entgegen, und diese sind es, welche das Erlöschen herbeiführen, aber keinesweges ein Nachlassen der Intensität der Mikroorganismen. Wenn wir nun die Ueberzeugung haben, daß wir durch Impfung dasselbe erreichen wie durch Absperrung, so legt sie uns die Verpflichtung auf, die Impfung durchzuführen. Was die schweizerische Statistik betrifft, so möchte ich darauf keinen zu großen Werth legen. Die Schweizer huldigen in jeder Beziehung, insbesondere aber in hygienischen und statistischen Fragen, einer ausgedehnten Demokratie. Schweizerische Thatsachen werden daher stets mit gewisser Vorsicht aufzunehmen sein, denn in der Schweiz giebt jeder an, was er will. Die Zahl der Blatternfälle ist höchstwahrscheinlich in der Schweiz erheblich größer, sie wird aber sicher im Interesse der Fremdenindustrie etwas geringe angegeben. Herr Dr. Böing: Es ist ja ganz selbstverständlich, daß auch wir der Ansicht sind, daß die beste Maßregel in der Absperrung besteht. Ich halte sogar die Zsolirung der Kranken für die Hauptmaßregel, und ich weiß deshalb nicht, ob das, was der Herr Vorredner gesagt hat, etwa an meine Adresse gerichtet sein soll. (Wird verneint.) ...
... Zn der dreijährigen Epidemie 1850 bis 1852 kamen auf 100 000 Einwohner 51 Pockentodte; in der zweijährigen Epidemie 1858 bis 1859 37, in der fünfjährigen von 1865 bis 1869 61, aber in der zweijährigen 1874 bis 1875 70 Pockentodte, und zwar auf das ganze Land berechnet, so daß die Fehler, die mit den Einzelerhebungen verbunden sind, fortfallen. Dann habe ich noch eine gleiche Statistik für Preußen für die Zahre 1842 bis 1871. Man könnte dieselbe leicht ergänzen aus den Mittheilungen des Reichs-Gesundheitsamtes für die Zeit nach 1871. Während der dreijährigen Epidemie von 1842 bis 1844 kamen auf 100 000 Einwohner 26 Pockentodte; in der zweijährigen Epidemie von 1853 bis 1854 44; in der Epidemie von 1864 bis 1867 49, und in der einjährigen Epidemie von 1871 sogar 243. Zch kann nun freilich nicht sagen, daß von 1842 bis 1871 in Preußen in ...

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... Aber dann ist es doch eigenthümlich, daß bei einem gleichbleibenden Jmpszustande eine Steigerung der Pockenmortalität von 26 auf 243 stattfinden konnte, und zwar so, daß die erste Epidemie, in welcher die geringere Todeszahl vorhanden war, sich auf 3 bis 4 Jahre erstreckte, während in der einjährigen Epidemie von 1871 sogar 243 Todte auf 100 000 Einwohner kamen. Das ist doch eine kolossale Steigerung trotz der gleichmäßigen Durchimpfung der Bevölkerung. Als letztes Beispiel muß ich England anführen. Es wird da immer gesagt, England habe keinen Impfzwang, und das könnten wir nicht mit uns vergleichen. Ich will das auch nicht thun, sondern ich nehme das Beispiel, weil innerhalb Englands ein solcher Vergleich möglich ist. — England hat verschiedene Jmpfgesetze in Folge des Umstandes, daß trotz der bestehenden Zmpfgesetzgebung die Pockenmortalität sich stetig steigerte. Die Jmpfgesetze wurden deshalb verschärft, namentlich im Jahre 1867. Hätte nun diese Verschärfung gute Wirkungen gehabt, so müßten dieselben in den Zahlen hervortreten. Das ist aber nicht der Fall. Während in den Jahren 1858 bis 1859 auf 100 000 Einwohner 16 Pockentodte kamen, waren es in der dreijährigen Epidemie von 1863 bis 1865 22 Pockentodte, und nach der Einführung des sehr verschärften Impfzwanges waren es 1871/72 47 Pockentodte. Ebenso steigerten sich in London die Pockentodesfälle; in den 10 Jahren von 1857 bis 1867 hatte es 284 Pockentodte auf 1 Million Einwohner, von 1868 bis 1878 dagegen 446. — Sie haben also auch hier statt einer Abnahme eine Steigerung von 16:22:47 resp. von 284 auf 446. ...
... Böing in der Statistik von Schweden und aus der Epidemie in Preußen in den Jahren 1870/71 stets eine Bevölkerung als in dem Sinne geimpft an, daß sie nun vollständig immun sein müsse. Wir erkennen eine derartige Bevölkerung auch in gewissem Sinne als geimpft an, aber dennoch nicht als vollständig geimpft, wie es die Bevölkerung von Deutschland nach Einführung des Jmpfgesetzes in Folge der Durchführung von Vaccination und Revaccination ist. In Bezug auf die angebliche Zunahme der Pocken im Laufe dieses Jahrhunderts habe ich Folgendes zu bemerken: Ein Blick auf die Pockentabelle von Preußen lehrt, daß in den dreißiger Jahren auch eine Epidemie geherrscht hat, die derjenigen in den sechsziger Jahren kaum etwas nachzieht. Ueberhaupt finde ich gar nicht ein so ausgesprochenes Ansteigen der Pockenmortalität vom Anfange dieses Jahrhunderts bis zu der großen Epidemie von 1871/72. Vor dieser letzten Epidemie erscheint im Gegentheile die Pockenmortalität in Preußen im Großen und Ganzen ziemlich gleichmäßig zu sein. Eine ganz plötzliche Steigerung tritt erst ein in den Jahren 1871 und 1872, und dafür haben wir ja auch eine genügende Erklärung durch die Kriegsverhältnisse und durch die massenhafte Einschleppung des Pockenkontagiums nach Preußen. Aber gesetzt auch den Fall, wir kaffen eine verhältnißmäßig geringe Steigerung gelten, so erkläre ich mir dieselbe sowohl für Schweden, Preußen, und wenn sie sonst noch wo konstatirt werden sollte, in gleicher Weise, wie es bereits von Herrn Dr. Arnsperger angedeutet wurde. ...

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... Man kann es als Axiom aufstellen, daß mit der Zahl der Ungeimpften die Zn- und Extensität einer Epidemie wächst. Es kommt aber noch die Erfahrung hinzu, daß selbst die Geimpften unter diesen Verhältnissen viel gefährdeter sind; denn jedenfalls muß mit der Intensität der Epidemie auch die Gefahr für die bereits Geimpften gesteigert werden, weil man nie bestimmen kann, wie weit der Schutz der Geimpften reicht, und ob ihr Schutz auch einer intensiven Epidemie gegenüber Stand hält. Schon aus diesen Gründen liegt die dringende Nothwendigkeit vor, daß man Ungeimpfte in einer Bevölkerung als solche betrachten muß, welche der öffentlichen Gesundheit Gefahr bringen. Herr Dr. Betz: Meine Herren, Sie haben schon viele Beweise meines geringen Rednertalentes erhalten, so daß ich nicht nöthig habe, Sie um weitere Nachsicht zu bitten. Es ist nicht jedermanns Gabe, sich fließend auszudrücken, doch werde ich das Möglichste thun, um Sie nicht zu langweilen. Herr Geheimrath Dr. Koch hat darauf hingewiesen, daß, wenn unsere Verhandlungen sich hinschleppen, es den fortwährenden Fragen der Zmpfgegner in die Schuhe geschoben werden müsse. Zch glaube, wenn wir nicht vorwärts kommen, so liegt das wohl in der Natur der Sache, und dieser Vorwurf trifft nicht meine Person, denn ich habe den Grundsatz, Fragen möglichst zu meiden, die mich als Zmpfgegner nicht persönlich berühren. Nun zur Sache. Der verehrte Herr Medizinalrath Dr. Arnsperger hat die Pockenepidemie in Heilbronn erwähnt. ...

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... Dann hat Herr Geheimrath Koch gesagt, die Ursache des Erlöschens der Epidemie läge zum Theile mit daran, daß, wenn die Pocken wieder auftreten, die Furcht der Bevölkerung eine so große wäre, daß sie in hellen Haufen sich impfen ließe. Nun, es läßt sich nicht leugnen, daß die Pocken, wenn sie einbrechen, eine kolossale Furcht verursachen; es giebt aber doch trotzdem einzelne Ausnahmen davon. Z. B. in Essen bei der Epidemie im Jahre 1881 kann ich Ihnen ziffernmäßig nach den amtlichen Zmpflisten nachweisen, daß, obgleich die Epidemie eine sehr starke war, trotzdem die Zunahme der Zmpsrenitenten bis zum Jahre 1882 eine stetige blieb; die Zahl stieg vom Jahre 1875 bis zum Jahre 1882 von 9,g Prozent auf 28,2 Prozent. Trotzdem aber erlosch die Epidemie. Das ist doch jedenfalls ein positiver Beweis, daß nicht alle Bevölkerungen der Furcht so zugängig sind. Nun erinnere ich ferner daran, daß Essen eine kolossale Proletariatbevölkerung hat. Die großen Fabriken von Krupp haben eine ungeheure Masse von Arbeitern, — das geht in das Zehntausende hinein. Die Leute wohnen zum Theil außerordentlich schlecht, in engen Räumen, genau so eine Fabrikbevölkerung, wie der Herr Geheimrath es eben geschildert hat, in engen Räumen, in Miethskasernen. In Essen wurde konstatirt, daß die Pocken eingeschleppt sind von einem Holländer, der dort in einem Hause gewohnt und einen Arbeiter angesteckt hat; dieser hat dann die Krankheit unter seinen Mitarbeitern und in die schlecht situirte Bevölkerung getragen. ...
... Diesen hygienischen Maßregeln ist auch nach dem Zeugnisse der dortigen Aerzte es zuzuschreiben, daß die Epidemie erlosch, ohne sich über den wohlhabenden Theil der Bevölkerung ausgebreitet zu haben. Es sind allerdings auch hier einige Familien von der Zivilbevölkerung ergriffen worden, aber immer nur solche, die in engen Straßen wohnten. Sie haben da einen bestimmten Beweis, daß das Jsoliren helfen kann auch ohne Zwangsrevaccination und sogar in einer Bevölkerung, die unter ungünstigen Verhältnissen lebt. Das ist ein positives Beispiel, welches in meinen Augen einen ganz bedeutenden Werth hat. Es ist mir dann noch der Vorwurf gemacht worden, ...

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... von Koch: Zch hätte über die Heilbronner Pockenepidemie zunächst nichts erwähnt, weil die Zusammenstellungen über diese Epidemie, soweit sie Württemberg betreffen, noch nicht vollendet sind — die Epidemie hat sich nämlich in einzelnen Ausläufern bis in die letzten Monate hineingezogen —; nachdem aber auf diesen Fall von dem Herrn Medizinalrathe Arnsperger exemplestzirt worden ist und über die Art der Ausbreitung und Festhaltung der Pocken in Heilbronn von Herrn vr. Betz besondere Lokaltheorien aufgestellt worden sind, will ich wenigstens das sagen, was mir amtlich bis dahin bekannt geworden ist. Herr Dr. Arnsperger hat die Gründe der Verbreitung hauptsächlich in der Zmpfgegnerschaft und in der Zmpfsäumniß gesucht, welche innerhalb dieser Bezirke geherrscht haben, im Gegensatze zu den badischen Bezirken. Zch muß das bis auf einen gewissen Grad zugeben, und es wird auch aus den Ziffern, die ich nachher anführen werde, diese Begründung als ziemlich zutreffend erscheinen. Dabei muß ich aber doch gleichzeitig bemerken, daß trotz der Jmpfgegnerschaft, die in Württemberg herrscht, und die sich doch nur auf einzelne Bezirke, auf gewisse Zentren, insbesondere und zwar schon vor längerer Zeit auf die Hauptstadt erstreckte, unsere Zmpfverhältnisse durchaus günstige sind. Ausgedehntere Blatternerkrankungen treten in Württemberg nur dann auf, wenn sie von auswärts eingeschleppt werden, in ganz ähnlicher Weise wie in Bayern. Wir haben sehr viele Eisenbahnarbeiter, namentlich Wälschtiroler, welche in den letzten 20 bis 30 Jahren des Oefteren die Blattern in das Land brachten. Außerdem erhalten wir Blattern durch Dienstboten, welche aus der Schweiz zurückkehren. ...
... Die Verbreitung bei der besprochenen Heilbronner Epidemie hatte aber besondere Gründe. Einestheils befanden sich unter den 146 Erkrankten, die wir nach einer bisherigen noch nicht vollendeten Zusammenstellung hatten, 17 nicht oder ohne Erfolg geimpfte Kinder, von denen 5 gestorben sind. Außerdem waren unter den 146 Erkrankten 50 bereits über 45 Zahre alt, von denen 12 gestorben sind. Es sind also offenbar sehr viele besonders Disponirte vorhanden gewesen. Was aber der Sache gleich von Anfang an eine schlimme Verbreitung verschafft hat, das war der Umstand, daß der erste durch die Einschleppung angesteckte Kranke ein ungeimpftes Kind war, und daß von diesem aus sich weitere Fälle mit großer Intensität verbreitet haben. Die weitere Ausbreitung von Heilbronn aus in die Nachbarbezirke ist in der gewöhnlichen Weise erfolgt. Wie gefährlich ein nicht geimpftes Kind, wenn es die erste Quelle einer Pockenepidemie an einem Orte und in einer Bevölkerung wird, für diese Bevölkerung ist, das habe ich bei der ersten kleinen Epidemie erlebt, welche ich seinerzeit als Vezirksarzt zu behandeln hatte. Damals war durch einen wälschtiroler Eisenbahnarbeiter das nicht geimpfte Kind einer besseren 169 ...

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... Also ist wohl anzunehmen, daß in diesen letzteren Provinzen eine Epidemie geherrscht hat, in den anderen nicht. Wenigstens möchte ich darüber erst eine Erklärung haben, ehe ich so vollkommen von einander abweichende Mortalitätszahlen wie 2 und 1 367 auf je 100 000 Einwohner als unter gleichen Verhältnissen beobachtet annehmen kann. Herr Geheimrath Dr. Koch: Es ist von Herrn Dr. Böing darauf hingewiesen, daß wir hier über den Nutzen der Impfung und nicht über die Wirkung des Zmpfgesetzes berathen. Zch weiß nicht recht, wie wir das auseinanderhalten sollen. Meines Wissens geht unsere ganze Berathung der ersten Vorlage, obwohl dieselbe betitelt ist: „Ueber den physiologischen und pathologischen Stand der Zmpffrage, darauf hinaus, zu prüfen, ob die wissenschaftlichen Unterlagen, welche man als Stützen für das Jmpfgesetz aufstellen kann, auch wirklich fest begründet sind, und dabei ist es gar nicht zu umgehen, daß wir mehr oder weniger auch unsere Ansichten über die Zweckmäßigkeit und über den Nutzen des Zmpfgesetzes aussprechen. Ich will den Fall setzen, daß wir das ZwangSimpfgesetz nicht hätten: dann würde wohl kaum eine Veranlassung dazu vorliegen, daß man eine Kommission berufen hätte, um über den physiologischen und pathologischen Stand der Zmpffrage zu berathen. Also ist doch schließlich das Endziel unserer ganzen Berathung, uns darüber klar zu werden und schlüssig zu machen, ob wir die Wirkungen des Zmpfgesetzes als so nützliche bezeichnen müssen, daß wir dasselbe als ganz berechtigt und unumgänglich nothwendig erachten müssen. ...
... Sie werden mir allerdings entgegenhalten: bei der Epidemie in Essen hat man desinfizirt und die Epidemie hörte danach auf, folglich war auch die Desinfektion eine wirksame. Dem gegenüber könnte ich Ihnen aber wiederum Hunderte von Beispielen anführen, wo man in Pockenepidemien sehr gründlich desinfizirt hat, ohne daß es auch nur das Geringste genützt hatte. Wir wissen bestimmt, daß mit den Desinfektionsmitteln, die uns jetzt zu Gebote stehen, gegen die Pocken nichts auszurichten ist. Ein flüchtiges Kontagium, wie dasjenige der Pocken, hastet an allen Dingen: es haftet an den Wänden, an den Möbeln, an den Fußböden, — und wie wollen Sie denn alle diese Gegenstände in einem Pockenhause desinfiziren? Sie werden wahrscheinlich sagen: man möge gassörmige Desinfektionsmittel anwenden, um einen solchen flüchtigen Znfektionsstoff zu zerstören. Aber gerade in dieser Richtung sind viele Versuche gemacht worden mit schwefliger Säure, mit Chlor, mit Brom u. s. w., und es hat sich immer wieder herausgestellt, daß, wenn die gasförmigen Desinfektionsmittel auch an und für sich wohl im Stande sind, den Znfektionsstoff zu zerstören, sie doch nicht in genügender Konzentration überall dahin dringen, wo sich derselbe festgesetzt hat. Es würde hiernach von wirksamen Maßregeln, welche man gegen die Pocken noch anwenden könnte, den ...


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